Montag, 27. Oktober 2014

Von Gaberville bis Squamish – Unberechenbares Nordamerika

Nordamerika – Faszination und Widerstreben. Es sind gemischte Gefühle, die wir (Europäer) dem großen, fernen Kontinent jenseits des Atlantiks entgegenbringen. In heutiger Zeit der Globalisierung werden wir täglich mit diesem einst so fernen Amerika konfrontiert: Im Supermarkt, im Fernsehen, beim Einkaufsbummel durch die Stadt – Lebensmittel, Serien, Filme, Musik, Bücher, Philosophien, Politik und Klamotten, vieles schimmert rot-weiß-blau. Doch was bedeutet es Nordamerikaner zu sein? Sind die meisten Amis engstirnig, sensationsgeil, Waffeneigentümer, uneinsichtig, auf XXL zugeschnitten, oberflächlich und allgemein ungebildet? Sind die meisten Kanadier Eigenbrötler, naiv, Eskimos, drogenabhängig, irrelevant, Holzfäller und mehr interessiert an Eishockey als an politischem Weltgeschehen? (Letzteres lässt sich wohl kaum abstreiten.) Sicherlich sind einige dieser Stereotypisierungen wahr, aber manchmal frage ich mich worauf wir (Europäer) diese Wertungen basieren. So ganz weiß ich selber nicht, worauf ich hier hinaus will. In gewisser Weise geht es darum, dass allein British Columbia 2,5 mal so groß ist als Deutschland und in New York City mehr Menschen leben als in beispielsweise Niedersachsen. Natürlich stimmt es, dass die nordamerikanische Geschichte noch sehr jung ist. Dennoch ist es hier vielfältiger als es uns durch die europäischen Medien oft vermittelt wird.

Wie bin ich überhaupt auf dieses ganze semi-substantielle politphilosophische Geschwafel gekommen? Das ist wohl unter anderem Stuart McLean zu verdanken. Kürzlich las ich sein Buch mit dem schönen Titel „Welcome Home - Travels in Small-Town Canada“. Ich empfehle jedem, der gerne liest und sich vielleicht ja auch ein bisschen für Kanada interessiert, dieses Buch zu lesen. Es ist sehr faszinierend, indem es einfach nur vom kanadischen Leben in verschiedenen kleinen Städten erzählt. Ein Leben, wie es wohl ein Großteil der nordamerikanischen Bevölkerung lebt. So habe ich zum Beispiel erfahren, dass nach dem ersten und vor dem zweiten Weltkrieg fast jeder dritte Kanadier noch als Bauer tätig war. 1990 (als Stuart das Buch schrieb) war es nur noch jeder 25ste und das bei einem landwirtschaftlichen Produktionswachstum von 175%. Diese Information hat mich nachdenklich gestimmt. Urbanisierung findet überall auf der Welt statt , aber was passiert wohl mit den ganzen kleinen Städten, die besiedelt wurden als noch jeder dritte eine Farm besaß? Was machen diese Leute, die früher einmal die Felder bestellt haben? 
 

Schon bevor ich Stuart McLean’s Buch las, begann ich mich für dieses Thema zu interessieren. Die ganze Chose kam ins Rollen, als wir auf unserem Roadtrip eines Nachmittags in Garberville strandeten. (Einschub: Der besagte Roadtrip bezieht sich auf eine Reise, wleche Jan, sein Bruder Ole, Rantanplan (unser Auto) und ich im April diesen Jahres von Vancouver bis San Francisco, entlang des berühmten und wunderschönen Highways 101 und anschließend von San Fran dann weiter zum Yosemite Nationalpark unternahmen. Einschub Ende). Garberville, ein Ort der 2010 genau 931 Einwohner zählte, liegt in Nordkalifornien, ca. 320 km nördlich von San Francisco. Wenn man Garberville googlet findet man folgenden Abschnitt bei Wikipedia: „Marijuana cultivation has replaced timber as the economic driver of Garberville and neighboring Redway. There is a Cannabis College in Garberville, and the town has been called "the marijuana heartland of the U.S." by BBC News."
 
All das wussten wir natürlich nicht als wir in Garberville zum Mittagessen eintrudelten. Wir suchten Rantanplan ein schattiges Plätzchen und liefen ein Mal die Hauptstraße hoch und wieder herunter bevor wir uns dazu entschieden in einem Diner einzukehren. Von unserem Fensterplatz aus konnten wir die Hauptstraße bestens beobachten. Eine Type nach der anderen lief an uns vorbei, von schräg bis schräger, alles dabei. Während wir Burger mit Süßkartoffelfritten mümmelten, kamen wir nicht umhin den etwas verrückten Vibe des Ortes aufzusaugen. Ein Ort voll bunter, ungewöhnlicher und lauter Charaktere. Wir beschlossen uns noch ein bisschen durch den Ort treiben zu lassen. Zunächst betraten wir einen esoterischen Laden mit dem vielversprechenden Laden „Hemp Connection“, der Pullis, Taschen, Aladinhosen, Wasserpfeifen, Bongs und allerlei anderen Krimskrams verkaufte. Zwei Frauen mittleren Alters begrüßten und unterhielten uns mit einem stetigen Redefluss. Es gab kein Entkommen bis wir uns alle drei im Gästebuch verewigt hatten. 
 
 
Hemp Connection!
Kaum waren wir aus dem Laden geflohen wurden wir auch schon von einer bedrogten jungen Frau darüber aufgeklärt, dass wir auf gar keinen Fall Pfeifen oder Bongs im „Hemp Connection“ kaufen sollten, sondern viel besser beraten seien ein anderes Geschäft schräg gegenüber aufzusuchen. Gleiche Ware, niedrigere Preise. Wir zogen es dann doch vor uns vor ein Café ca. 5 Häuser weiter zu setzen und das Geschehen auf der Hauptstraße (also eigentlich auf der einzigen Straße) zu beobachten. Nach ca. 15 Minuten kannten wir gefühlt jeden Einwohner des Ortes. Leute liefen von links nach rechts, von rechts nach links, ins Kaffee und wieder heraus, riefen sich etwas über die Straße zu und schienen allesamt ziemlich wenig anderes zu tun zu haben. Die Versuchung war groß für den Rest des Tages einfach am klapprigen Café Stühlchen sitzen zu bleiben, um auf den neusten Stand allen Klatschs und Tratschs Garbervilles gebracht zu werden. Wir waren jedoch ursprünglich nur für einen kleinen Mittagsimbiss abgefahren, sodass wir uns damit begnügten noch ein paar Souvenire zu besorgen (Supermariopflaster und ähnliches) und uns dann kopfschüttelnd wieder auf den Weg zu machen. Es gibt wirklich Orte, die gibt es nicht.

 
Einen Ort, den es hingegen auf jeden Fall gibt und der sogar nur 70 km von Vancouver entfernt ist, ist Squamish. Squamish entstand während des Baus der kanadischen Eisenbahnstrecke, die Ost und West verbinden sollte. Heute ist Squamish wohl hauptsächlich bei Kletterern und Touristen bekannt, wobei erstere die „Great Wall“ des Stawamus Chiefs bezwingen wollen, während letztere sich von der Sea-to-Sky Gondel auf Mount Habrich fahren lassen. Doch auch wer weder gerne klettert, wandert oder Gondel fährt wird nicht enttäuscht, denn die Fahrt über den sogenannten Sea-to-Sky Highway, welcher sich zwischen Vancouver und Squamish an Wasser und Bergen entlangschmiegt, ist atemraubend.
 
Letzten Sommer durfte ich schließlich erleben, dass in Sqamish nicht nur geklettert und Natur angeschaut wird, denn Mitte Juni verschlug es mich einen ganzen Tag nach Squamish (Jan hatte einen Job in der naheliegenden Woodfibre Site). Los ging’s in aller Herrgottsfrühe an einem vielversprechend sonnigen Samstag. Jeder der sich in seinem Leben schon einmal die unangenehme Erfahrung gemacht hat mir vor 10 Uhr morgens zu begegnen, sollte nun aufpassen! Es gibt doch tatsächlich eine Methode mich wachzubekommen: Man nehme mich mit auf eine kleine Bootstour. Mir wurde nämlich die Ehre erwiesen mit zur Woodfibre Site zu fahren und anschließend per Privattour vom freundlichen Bootsfahrer wieder zurück geschifft zu werden. Eine Bootsfahrt mit Blick auf Squamishs Berge, Wasserfälle und Wald, da huscht sogar Morgengrummel Fooken ein Lächeln übers verschlafene Gesicht. 
 
 
Später erkundigte ich dann Squamish auf eigene Faust. Laut Insiderinformationen gab es in der Ortsbibliothek gemütliche Stühle und einen Kamin, sodass ich beschloss mich mit Stuart McLean erst einmal dorthin zu verziehen. An der Bibliothek angekommen musste ich feststellen, dass die Öffnungszeiten sich auf 10:00-14:00 Uhr beschränkten. Etwas vor den Kopf gestoßen suchte ich also das zweite Café auf, in dem wir nicht gefrühstückt hatten und ließ mich dort in einem Sessel am Fenster nieder. Auch hier sah ich bald schon immer wieder die selben Leute vorbeilaufen. Eine Mutter mit ihrer Tochter, beide fahrradhelmtragend, obwohl sie die Fahrräder bereits irgendwo angeschlossen hatten. Ein Mann mit seinem Hund, Hund stets vorrauseilend. Im Café fand sich derweil ein Stammkunde nach dem nächsten ein. Man besprach die gerade beendete Eishockeysaison und die noch laufende Fußballweltmeisterschaft. Die Tatsache, dass England auszuscheiden drohte, war scheinbar gar nicht gut für die Tipprunde. Nach mehrfachem Hin- und Herlaufen, fand sich schließlich auch noch eine Gruppe spanischer Touristen ein, während im zweiten Stock des Cafés Senioren irgendeinen Kunstkurs besuchten.

Nach einer Weile strömten (naja wohl eher tröpfelten) die vorbeigehenden Leute alle in dieselbe Richtung. Das konnte nur eins bedeuten: Der Farmers Markt ging los. Auch ich machte mich bald auf den Weg zum kleinen Markt. Es dauerte ca. 4 Minuten um einmal durch den gesamten Markt zu streifen. Bio-Eier, Bio-Gemüse, Bio-Huhn, Schmuck, selbstgemachtes Brot und alles zu ziemlich abenteuerlichen Preisen. Ich kaufte mir ein frisches Gingerbeer und ließ mich auf einem Mäuerchen nieder, um das Treiben ein bisschen zu beobachten. Es schienen sich hauptsächlich Althippies und junge Eltern auf dem Markt zu befinden. Neben mir spielte eine Raggieband für ein paar tanzende Kinder und fünf Öhmchens auf Plastikstühlen. Rechts von mir saß eine junge Mutter, die Tee aus einem Einmachglas schlürfte. Es war sonnig und roch nach frischen Obst, Gemüse und Brot. Die Leute grüßten und schnackten und ein paar Mal wurde mir aufmuntert zugerufen, da ich (natürlich) im Deutschlandtrikot unterwegs war. 
 
 
Irgendwann musste ich mich dann doch mal auf den Weg machen, um mir im naheliegenden Brew-Pub das Vorrundenspiel Deutschland gegen Ghana anzuschauen. Auf dem Weg dorthin ging ich noch durch einen kleinen sehr grünen Park, in dem Familien picknickten und eine Jungedgruppe Judo oder Ähnliches lernte. Als ich mich schließlich zum Fußball schauen im Pub niederließ, war ich ziemlich zufrieden mit dem Tag in Squamish. Ein ruhiges, geselliges Leben abseits des wuseligen Vancouvers. Dem geselligen Motto folgend, setzte ich mich mit ein paar anderen deutschen Touristen an einen Tisch, denn egal wo auf der Welt man sich befindet, man kann sich relativ sicher sein, dass man auf deutsche (oder mindestens holländische) Touristen trifft. 
 
Wohlverdiente Ruhe nach aufregendem Tag in Squamish
Auch wenn Garberville und Squamish sich in vieler Hinsicht deutlich unterscheiden, bleibt ein Nachgeschmack von geselliger Schrillheit an beiden Orten. Nachbarn werden nicht beäugt, sondern angesprochen, Kinder und Hunde dürfen frei herumlaufen und sich bis zu einem gewissen Grad daneben benehmen. Die Zeit wird vertreibt man sich anstatt sie davon rinnen zu sehen. Was genau der durchschnittliche Einwohner einer Kleinstadt in heutigen Zeiten so macht, bleibt zu erkunden, doch der Eindruck bleibt, dass in manchen dieser Städtchen das Leben vielleicht nicht ganz so ernst genommen wird, wie anderswo.