Freitag, 1. Mai 2015

Eine Zugfahrt die ist lustig, eine Zugfahrt die ist schön

Vor einiger Zeit hatte ich Besuch von meiner guten Freundin Mara. In den 22 Jahren, in denen wir uns nun kennen haben wir viele schöne Reisen und auch einige wilde Abenteuer erlebt. So war es für mich selbstverständlich, dass wir neben den Tagen in Vancouver auch noch eine kleine Tour unternehmen sollten. Ich überlegte hin und her. Ich wollte gerne an einen Ort fahren, den wir beide noch nicht kannten und etwas unternehmen, was in gewisser Weise unserer Freundschaft entsprach. Unkonventionell, individuell, dynamisch, und einfach ein bisschen verrückt.

Gott sei Dank lebe ich ja inzwischen in einer Welt unbegrenzter Möglichkeiten, gepflegter Vorgärten und uneingeschränkten Medienangebote. So stieß ich schon bald auf eine bizarre TV Serie, welche die Antwort auf meine Frage zu sein schien: Portlandia. Wikipedia weiß zu berichten: „In der Serie wird das Glokalkolorit [für alle, die über dieses Wort genauso anungslos stolpern wie ich, es handelt sich scheinbar um ein Kofferwort aus den Begriffen Globalisierung und Lokalisierung] der Portlander Hipster bzw. die Kreativ- und Alternativszene in kurzen Sketchen porträtiert und persifliert.“ Die Serie beginnt mit folgender Scene: Zwei Freunde treffen sich in San Francisco. SIE geht grad mit ihrem Hund spazieren und ER ist frisch zurück von einem Besuch in Portland. Portland, Oregon? Ja, Portland, Oregon, ein friedlicher kleiner Staat an der Westküste der USA. Und dann erzählt er in Forme eines Songs: „The dream oft he 90s is alive in Portland"
 

So war also klar, wir würden nach Portland reisen. Eine aufstrebene kleine Stadt, voller Hipsters und Individualisten. Tee, Mocca und Lattes werden nicht in Papp-to-go Bechern sondern in Einmachgläsern durch die Stadt getragen. In allen Restaurants wird frische Ware aus biologischem Anbau verwendet und kann außerdem in einer glutenfreien, vegetarischen oder vegane Variante bestellt werden. Wer sich doch nach einem Stück Fleisch sehnt bekommt sowohl die Lebensgeschichte des zu essenden Tiers präsentiert als auch mehrere Zertifikate über glückliche Tierhaltung vorgelegt. Kleidungsstiele kommen in allen Formen, Farben, Längen, Schnitten, Kürzen, Größen und Anzahlen der Kleidungsstücke vor. Selbstverwirklichungsmöglichkeiten gibt es in Bereichen Bartwuchs, Haarschnitt, Schuhfarbe, Handytaschen, willkürlichen Anhängern and Rucksäcken, Taschen, Röcken, Hälsen, Handys oder Haaren sowie Fahrraddekoration. Denn in Portland fahren alle Fahrrad. Man hat sogar die Helmpflicht abgeschafft um mehr Leute auf die Zweiräder zu bekommen. Alles tummelt sich in Cafés, Kneipen, an zahlreichen Essensständen oder Kombinationen der vorherigen Optionen. Ob Leute arbeiten bleibt unklar. Junge Männer fahren oberkörperfrei in Shorts mit hochgezogenen Socken auf ihren Skateboards durch den normalen Straßenverkehr. Naja, normal ist vielleicht das falsche Wort den zwischen Autos, Fahrrädern und Skateboardern tauchen Leute auf riesigen Artistenfahrrädern auf, die sich jeden Moment den Kopf an Straßenlaternen zu stoßen drohen.
 


Doch trotz aller Farbenfreude, Schrillheit und Flippigkeit der Stadt ist es doch etwas anderes was mir von dieser Reise am Meisten in Erinnerung bleiben wird: Die Zugfahrt von Vancouver nach Portland. Wir nahmen den Zug um 06:30 Uhr morgens in Vancouver, der einzige Zug der die ganze Strecke durchfährt. Zug verpassen war also schon mal keine Option. Planmäßig sollte die Zugfahrt 8½ Stunden dauern, mit dem Auto fährt man etwas mehr als 5 Stunden, die Frage was der Zug in den zusätzlichen 3 Stunden machen würde blieb zunächst unklar. Wir kamen also gegen 06:10 Uhr morgens am Bahnhof an, holten uns einen Kaffee und füllten fleißig Einwanderungs- und Zollformulare aus. Überall standen Hinweisschilder, dass man keine Früchte mit an Bord des Zuges nehmen dürfte. Wir hatten für die lange Zugfahrt Bananen, Orangen und Äpfel gepackt. Naja, erst einmal abwarten. Während der zeitliche Aufwand also gegen eine Zugfahrt zu sprechen schien, zeigte sich schon bald die erste positive Seite: Man brachte den größten Teil der USA Einreise noch vor Betreten des Zuges hinter sich. Nicht nur durften wir unsere Schuhe anbehalten, auch das Grillen der Beamten hielt sich in Grenzen (nicht so bei einer Mitreisenden, die haarsträubende Geschichten angab und versuchte den Beamten davon zu überzeugen, dass sie wirklich nur zum Feiern nach Seattle fahren wollte, wie dieses Drama ausging erfuhren wir dann allerdings nicht mehr). Als also die bürokratische Hürde sowie das obligatorische Schmuggeln von Obst hinter uns gebracht worden war, wurden wir von der netten Schaffnerin auch schon angehalten uns zu beeilen, so ein Zug wartet schließlich auf niemanden. Wir machten uns also auf den Weg, den verlassenen Bahnsteig entlang, zu unserem Abteil. Vor jeder Zugtür stand eine kleine gelbe Trittleiter als Einsteigehilfe, bis die alle in den Zug geräumt worden waren, war wahrscheinlich sowieso noch ein bisschen Zeit. Aber bei über 8 Stunden Zugfahrt will man es sich mit dem Personal ja nicht gleich verscherzen. 
 
 
Wir fanden uns also auf unseren Plätzen ein und stellten enttäuscht fest, dass wir nicht auf der Küstenseite saßen. Der Pazifik würde uns ein großes Teil der Strecke begleiten. Zunächst allerdings galt es die Aufmerksamkeit auf ganz andere Dinge zu richten. Nachdem alle Fahrgäste ausführlich begrüßt, das Wetter besprochen und der detaillierte Reiseplan vorgestellt worden war, wurden Verhaltensregeln im Zug durchgegangen. Stören der Mitfahrenden war zwar nicht direkt verboten, sollte allerdings so gut wie möglich reduziert werden. Besonders wichtig war jedoch der Hinweis, dass das Gehen durch einen fahrenden Zug gewisse Gefahren barg. Ein breiter Gang mit kurzen, aber sicheren Schritten sowie festhalbereiten Händen wurde hier empfohlen. Wir kicherten, wobei wir selbstverständlich versuchten Rücksicht auf die anderen Fahrgäste zu nehmen. Dann ging es los. Oder so etwas ähnliches. Wir tuckerten ca. 5 Minuten durch Vancouver bevor wir zu einem kompletten Stillstand kamen. Das konnte ja heiter werden. In der ersten Stunde der Zugfahrt überschritten wir Jogginggeschwindigkeit kein einziges Mal. Doch irgendwann schien dem Zugführer einzufallen, dass er später am Tag noch eine Verabredung hatte und der Zug nahm langsam an Fahrt auf. Kurze Zeit später erreichten wir auch schon die Grenze. Panisch aßen wir jeder eine Banane und eine Mandarine. Früchte durften ja unter gar keinen Umständen in die USA eingeführt werden. Der Zoll rollte dann allerdings mit einer Geschwindigkeit durch den Zug, von dem der selbige sich eine Scheibe hätte abschneiden können. Mein Häkchen bei „Fruit or Vegetables“ interessierte niemanden. Willkommen in den Vereinigten Staaten von Amerika, das Land der unbegrenzten Sinnlosigkeit.

Kurze Zeit später machten wir uns im breitbeinigen sicheren Gang auf den Weg zum Speisewagen, wo wir uns gleich einen Fensterplatz an der "richtigen" Seite sicherten und zufrieden einen Kaffee schlürften. Der ruhige Pazifik glitzerte in der Sonne. Berge, Möwen, Segelboote, Adler sowie das endlose Meer boten ein echtes Spektakel. Der Zug hatte sich inzwischen auf ein gemütliches aber stetiges Tempo eingelassen und so zuckelten wir zufrieden durch Washington State. Alles war entspannt und gemütlich, die Welt schien ausgeglichen und gleichmütig. Nur bei den Schaffnern schien noch einiges an Stress zu herrschen: „An der nächsten Station steigen jetzt noch 52 Leute zu und dann 23 aus, die Einsteigenden können wir dann ja in Wagen 5 und 6 setzen. Aber dann sind da auch noch die Damen in Wagen 4. Die sitzen auf den falschen Plätzen. Sollen wir die jetzt schon umsetzen oder noch bis Eugene warten?“ Dem Zusteigen jedes einzelnen Fahrgastes wurde in einer Mischung aus freudiger Erwartung und leichter Panik entgegengefiebert. Dass irgendein Fahrgast zu irgendeinem Zeitpunkt der Reise keinen eigenen Sitzplatz haben könnte, schien einem absoluten Desaster gleichzukommen. Ich schmunzelte. Ich hätte die drei gerne mal mit der deutschen Bahn von Köln nach Berlin losgeschickt. Kurze Zeit später war die maximale Stresskapazität erreicht als breit und lang erklärt wurde, dass wir im nächsten Bahnhof erst neue Passagiere einsammeln würden, dann allerdings kurzzeitig rückwärts fahren mussten, um einen entgegenkommenden Zug passieren zu lassen. Es wurde mehrfach darauf hingewiesen dass wir nicht wieder zurück, sondern nur rückwärts fahren würden, und das auch nur kurzzeitig sowie unplanmäßig. Als der Zug dann schließlich rückwärts weiterfuhr blieb die Massenpanik Widererwartens aus. Allerdings hatten wir nun schon knapp eine Stunde Verspätung und das noch weit vor Seattle. Das konnte ja heiter werden.

Die allgemeine Aufregung legte sich dann allerdings ein bisschen. Der Zugführer machte noch eine stolze Durchsage, dass wir gerade an der dritt schönsten Straße der Welt vorbei fahren würden. Wir schauten etwas verdutzt aus dem Fenster, alles was man sehen konnte war ein Trailer-Park. Als der Zugfahrer mit breitem Grinsen zurück spaziert kam wurde klar, dass wir gerade durch seinen Heimatort fuhren. Der kritische Ansturm der Fahrgäste hatte sich gelegt. Man spaßte jetzt. Als wir schließlich in Seattle die Küste verließen und mehr in Richtung Inland fuhren wurde es Zeit für ein Nickerchen. Die ersten Stunden der Zugfahrt hatten sich aufregend und amüsant gestaltet und so war es höchste Zeit 2-3 Stündchen vor sich hinzuschlummern bis es endlich hieß: Nächster Halt Portland, Oregon.